Mein Leben ist vermutlich genauso schnell und bunt und trubelig, wie das der meisten anderen Menschen in unseren Breitengraden.
Es gibt da diese kleine, feine, sehr effektive Methode, um das Leben zu entschleunigen. Ich verrate sie dir: einfach mal ein paar Wochen latente Grippe haben. So ging es mir gefühlt den halben Januar und Februar. Ich habe in dieser Zeit ein paar interessante Feststellungen gemacht, die ich mit euch teilen möchte.
Während ich also in meinem Bett lag und gefühlt die zwanzigste Tasse Tee trank, habe ich gemerkt, wie schwer es ist, aus dem Hamsterradmodus rauszukommen. Wenn man mal ein paar Wochen nicht so richtig am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann, nicht so richtig funktioniert, merkt man erstmal, wie sehr wir uns über Leistung definieren. Es klingt vielleicht verrückt, ein bisschen übertrieben, aber ich hab mich in diesen Wochen irgendwie abgehängt und einsam gefühlt. Alle rennen weiter und ich komme nicht mehr mit.
Ich hatte ja viel Zeit zum Nachdenken und da habe ich mich gefragt, wie es wohl den Menschen geht, die über einen längeren Zeitraum nicht am gesellschaftlichen Hamsterradrennen partizipieren können?
Die zerbrechlichen Alten, die alleine in ihren Wohnungen sitzen. Die unter chronischen Schmerzen leidenden. Die mit den wenigen Ressourcen. Die Knastis mit 7 Jahren Haftstrafe. Die Langzeitarbeitslosen. Die Mütter, die seit Monaten kein Schlaf mehr bekommen. Die unter Depressionen leidenden. Die Liste ließe sich ja noch lange fortschreiben.
Wie geht es diesen Menschen, die nicht mithalten können? Die ganz genau wissen, dass die Gesellschaft auf sie herabblickt, weil sie nicht so viel geben können, wie erwünscht. Haben diese Menschen
jemanden an ihrer Seite? Der sie tröstet? Der sie sieht?
Und vor allem habe ich mich gefragt: Wo sind diese Menschen? Wo begegnen sie uns im Alltag? Oder verstecken sie sich zu Hause, um lieber nicht gesehen zu werden? Das könnte ich gut verstehen.
Diese paar Wochen, des nicht ganz im Takt Seins, haben mich neu daran erinnert, diese Menschen nicht zu vergessen! Ich will mir die Zeit nehmen, sie zu besuchen. Sie zu sehen. Ich will sie an
ihren Wert und ihre Würde erinnern, die nicht von ihrer Leistungserbringung abhängig sind.
Antoine de Saint-Exupery schreibt so schön: "Verleihe mir die nötige Fantasie, im richtigen Augenblick, ein Päckchen Güte mit oder ohne Worte, an der richtigen Stelle abzugeben."
Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der die Menschen Zeit haben, sich gegenseitig ein Päckchen Güte vorbeizubringen. Eine Gesellschaft, in der der höchste Wert nicht Leistung, sondern
Solidarität, ist.
Wem willst du diese Woche ein Päckchen Zeit, ein paar warme Worte, eine Tasse Tee schenken?
Ich wünsche dir eine große Portion Fantasie und Mut dafür.
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