Liebe Johanna
Zeilen zwischen Afrika und der Alb. Zwischen Muhanga und Mühlhausen, wäre schön - nur stimmt es nicht ganz. : ) Du beginnst ja gleich mal mit einem Montag, der es in sich hat.
Du schreibst von einer Unterbrechung. Und dann auch noch an einem Montag. Das letzte, was ich an einem Montag, an dem ich versuche Routine in den Alltag von den Kindern und mir zu bekommen, gebrauchen kann, ist eine Unterbrechung. Gerade der Montag ist doch so schon oft blöd genug, als dass man dann noch eine Unterbrechung, eine Außerregelmäßigkeit brauchen könnte, oder? Sehr unangenehm.
Bei mir ist Mittwoch. Wir sind in Kenya. Östliches Kenya. Und kommen gerade von einer Konferenz internationaler Fachkräfte in Afrika. Verschiedenste Menschen mit Berufen aus Gambia,
Äthiopien, Uganda, Malawi, Tanzania, Burundi, Rwanda usw. Eine Woche lang Austausch (fachlich, persönlich usw.), Erholung und Regeneration. Einfach mal raus sein, aus dem klein klein des Alltags
in Muhanga. Gut erholt und gestärkt ziehen wir mit zwei anderen Familien aus Uganda und Kenya in ein Ferienhaus, um noch eine Woche Urlaub zu genießen.
Meine Mutter meldet sich während ich in der tropischen Hitze unsere Kleidung in Schränke räume und die Aufregung der Kinder in Schach zu halten und gleichzeitig einen Einkauf für 3 Familien mit
insg. 9 Kindern zu planen versuche, dass meine Oma am Bodensee nichts mehr isst und nichts mehr trinkt und bald sterben könnte. U N T E R B R E C H U N G.
Oma hat nichts mehr gegessen oder getrunken. Gesungen hat sie noch. Sehr lange. Schwach, aber gesungen. Und dann ist sie, nachts um 3 Uhr, gestorben. Eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht auf
dieser Seite. Ich bekomme diese Nachricht vormittags. Wieder Hitze, immer noch Kenya, kurz vorm Frühstück der Rasselbande, mit Pfannkuchen und Maracujasaft. Gleichzeitig hat der Krieg in
Osteuropa, der Krieg in der Ukraine begonnen.
Mittendrin. Einfach so, so mittendrin. In den Wirren des Alltags. In der Hitze des Urlaubs. In der Auseinandersetzung ganzer Länder. Mittendrin - mitten im Leben - ist sie einfach gestorben. Ob
es einfach war, weiß ich nicht.
Das verstehe wer will. Ich nicht. An ihrem Todestag habe ich morgens um 11 Uhr Geschichten über ein kleines Mädchen namens Ilse erzählt. Die auf der Flucht war. Fliehen musste vor dem „Russen“,
der nach Ostpreußen kam. Ich habe von ihrem Weihnachtsgeschenk erzählt, einem roten kleinen Apfel, den sie von ihrer Mutter auf dem Schwarzmarkt in Berlin bekommen hat. Ich habe von Oma Illse
erzählt, die immer Suggus, Schweizer Kaubonbons für uns Kinder hatte. Und Pombären. Bei der wir viel Schlager hören und sehen mussten. Oma Ilse, die tapfer Geschichten und Verse vorgelesen hat,
obwohl sie kaum lesen konnte, und der zweite Teil des Satzes oft frei erfunden war, oder nach Gefühl weitergedichtet. Habe erzählt von Oma Ilse mit ihrer schicken Frisur und ihren adretten
2-Teilern. Ihrem Schmuck und ihrer Art das Leben zu meistern. Ja, wirklich meistern. Als hätte sie - in oder durch traumatische Kindheitszeiten eine Meisterprüfung abgelegt. Und bestanden. Mit
Bravour.
Mittendrin. Unmöglich eigentlich. Mittendrin einfach zu sterben.
Für mein Empfinden. Für ruandische Bekannte und Freunde, die ich beobachte und befrage - gar nicht so schlimm. Und erst recht nicht unmöglich. Mittendrin - leben und sterben.
Oma Ilse ist mittendrin gestorben. Auf ihrer Traueranzeige, ein Gedicht von Lothar Zenetti:
....Wir sind mitten im Leben - zum Sterben bestimmt... Wir sind mitten im Sterben - zum Leben bestimmt.
Leben und Sterben, Annehmen und Loslassen gehören zusammen. Zwei Teile eines Ganzen. Keine krassen Kontraste. So erleben es viele RuanderInnen - und wir mit Ihnen. Malaria und zwei Wochen im
Bett, richtig krank ist Alltag. Komatös zu Hause auf einer Pritsche liegen, vielleicht ins Krankenhaus - oder auch nicht, mit oder ohne Diagnose wieder nach Hause, und hoffentlich aufwachen, ist
Alltag. Krank sein ist auch hier, schrecklich und unpassend, behindernd - aber viel sichtbarer. Ich sehe schlimme Krankheiten. Offensichtlich. Ich sehe viele Menschen mit Behinderung. Ich sehe
einen schwersttraumatisierten jungen Mann, der immer mal wieder in unserem Dorf wütet, Kopfstand auf der Hauptstraße übt, ein-sockig Steine oder Müll durch die Gegend schleudert und auch
zwischendurch ganz klar in einem Shop einen Icyai trinkt (afrikanischen Tee mit Gewürzen, viel Milch und viel Zucker), ein bisschen Brot isst oder ein zwei Bananen geschenkt bekommt. Ich sehe
viele viele alte Frauen und viele alte Männer, die liebevoll mit „Wie geht’s alte Frau, wie geht's alter Mann?“ begrüßt werden.
Mein Mann kommt Mittwochabend geknickt in mein kleines Schreibzimmer und erzählt von einem Frühchen, das heute einfach gestorben ist. Man hätte so viel mehr tun können. Und dann auch wieder nicht. Die Möglichkeiten sind begrenzter und die Grenzen des Lebens dichter an uns dran. Er erlebt viele Familien, die mit schlimmer Diagnose des Kleinkindes oder Neugeborenen ohne Medikamente nach Hause gehen. Medikamente gibt es nicht oder die Behandlung kann sich die Familie nicht leisten. Die anderen Kinder zu Hause müssen auch leben .... Und so werden sie mit tödlich krankem Kind entlassen. Menschen werden krank. Menschen sterben. Kleine kranke Babies und ältere Menschen - einfacher gehen lassen - gehört dazu. Dem Tod und dem Sterben einen Platz zu geben, mitten im Leben erscheint fast zynisch, fies und unpassend. Dem Sterben einen Platz zu geben ist unangenehm. Und doch scheint es dazuzugehören, zu einem „Leben mittendrin.“
Pflücke den Tag. Carpe diem. Habe ich in der Schweiz, in der 6. Klasse, in meinen ersten Stunden Lateinunterricht gelernt. Pflücke den Tag. An diesem Tag, voll einatmen und voll ausatmen. An diesem Tag leben. Mein Mittendrin ausfüllen. Auskosten. Bekommt eine neue Nuance, eine neue Stimme - hier in Ruanda.
Es kann sein, dass Gutes geschieht und mir Gesundheit geschenkt wird. Es kann sein, dass wir krank werden. Es ist im Rahmen des Möglichen im Mittendrin zu Sterben. Loszulassen. Umso schöner, umso wahrer, umso wichtiger mein Mittendrin auszukosten.
Liebe Johanna. Wir leben und liegen in anderen Zeitzonen. Um zu dir zu kommen, müsste ich 140h ohne Stau oder Überfälle durch an die 9 Länder reisen (mit dem Auto), darunter Congo und Niger, was leicht gefährlich werden könnte. Zu Fuß wären es fast 1000 km weniger (nur 8 700km). Und doch liegt dein Montag nah an meinem Flicken-Mittwoch. Deine Unterbrechung hätte meine Unterbrechung sein können. Von Afrika auf die Alb. Aus dem Urlaub nach Untertürckheim (oder so). Von Mittendrin nach Mittendrin schicke ich dir einen Gedankenfaden der Dankbarkeit für unser Mittendrin.
So schreibt eine amerikanische Theologin und Pyschologin:
"My friend is teaching her grandchildren that everything is a gift. Everything from water to smiles, from bicycles to education. Nothing is deserved .... and the only
appropriate response to all lifes gifts is gratitude. Thankfullness is the thread that can bind together all the patchwork squares of our lives. Difficult times, happy days, seasons of sickness,
hours of bliss - all can be sewn together into something lovely with the thread of thankfulness.“
Adele Ahlberg Calhoun
Meine Haushaltshilfe und Mitarbeiterin zu Hause sagt oft, wenn sie von ihrer Mutter erzählt „I thank God every day - EVERY DAY, that I did not see Genocide.“ Der Faden, der das Schreckliche und das Schöne zusammen zu weben vermag, der unser Mittendrin durchzieht heißt D A N K B A R K E I T.
Vielen Dank, liebe Johanna, für deinen spannenden Montag und deine gute Unterbrechung,
Ich schick dir Liebe um die halbe Welt.
deine Eva
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Schaffi (Mittwoch, 30 März 2022 21:09)
Sehr berührend, tiefgründig und zum Nachdenken anrührend. Danke! Danke auch für die wertschaetzenden, lieben Worte über die "kleine Ilse"... Ich seh sie grade vor mir wie sie euch vorliest��
Schöne Idee mit eurem Briefwechsel